Die Stille um mich herum ist so schwer, dass ich kaum atmen kann. Ich mache die Augen auf, aber ich sehe nichts. Vielleicht ist etwas schief gelaufen. Ich muss zwischen zwei Portalen hängen geblieben sein, denke ich für einen Moment. Im Nichts, im leeren Raum ohne Geräusche ohne Bilder. Ich taste vorsichtig an mir herunter um sicher zu gehen, dass wenigstens ich noch existiere und mich nicht auch aufgelöst habe. Man weiß ja nie. Ich rufe nach Eduard, aber der antwortet nicht. Dann merke ich, dass ich auf etwas drauf liege. Das ist gut. Wenn ein Boden zum Drauf-herum-liegen da ist, muss ich mich irgendwo befinden. Es ist nicht mal sonderlich unbequem, und ich denke darüber nach einfach liegen zu bleiben. Ich würde so gerne schlafen und mich ausruhen.
Am Ende der Dunkelheit bildet sich ein kleiner Streifen Licht. Er wird immer größer und schließlich sehe ich, dass es die Sonne ist, die sich dort langsam über den Horizont schiebt. Endlich erkenne ich auch meine Umgebung. Sand. Und noch mehr Sand. Sonst nichts. Kein Baum, kein Gebäude, keine Menschen. Ich bin in einer Wüste.
Da wollte ich immer schon mal hin, aber nicht so. Ich habe mir immer vorgestellt, wie ich eines Tages nach Afrika reise, mit einem ganzen Tross von Kamelen und großen Zelten. Um unentdeckte Länder zu finden. Ich weiß, alle sagen, dass es keine unentdeckten Länder mehr gibt, aber wie will man sich denn wirklich sicher sein, dass alles schon entdeckt wurde? Es gibt bestimmt noch Länder, von denen man noch gar nicht entdeckt hat, dass sie unentdeckt sind. Aber ich würde sie schon finden, und dann würde ich berühmt werden, und sie würden mich als ihren König feiern und vielleicht sogar eine Straße nach mir benennen.
Aber so, so habe ich mir das nicht vorgestellt, so ganz ohne Kamele und Zelte und ohne Essen und Trinken könnte es wirklich ein schwieriges Unterfangen werden. Was, wenn ich mich wirklich in einem unentdeckten Land befinde und keiner würde mitbekommen, dass ich es entdeckt hatte? Erst als die Sonne immer höher steigt und sich glitzernd auf dem weißen Sand spiegelt, fällt mir wieder ein, dass ich in einem weiteren Traum sein muss. Ob es zählt, wenn man Länder in Träumen entdeckt? Ich nehme Eduard heraus und versuche, mit ihm darüber zu reden. Er weicht meinem Blick aus und kneift seinen Mund zusammen.
Mir kommt eine Idee und ich stell mich auf den Kopf, aber es ändert nichts. Nur dass jetzt der Sand oben ist und der Himmel unten. Die Sonne steigt höher und es wird schnell immer wärmer.
Ich halte die Seiten in die Luft, in der Hoffnung irgendeinen Anhaltspunkt zu bekommen. Sie geben keinen Laut von sich.
Jetzt verstehe ich, was es heißt, wenn sie im Fernsehen von der orientierungslosen Jugend reden.
So ungefähr muss es sich anfühlen, wenn man fertig ist mit der Schule und nicht mehr genau weiß, dass man morgen wieder in dasselbe Gebäude geht, in die gleiche nervige Klasse wie jeden Tag und sich von den Lehrern das nächste Kapitel erklären lässt. So muss es sich anfühlen, wenn man plötzlich alle Entscheidungen selber treffen muss, und vor einem liegt nichts als Sand, und jedes Sandkorn und jeder Hügel sieht gleich aus, und obwohl man weiß, dass irgendwo dahinter die Welt weiter geht und es da Menschen und Häuser und Essen und Trinken geben muss, hat man keine Ahnung, welches denn jetzt die richtige Richtung ist.
Das gute ist ja, dass wir auf einer Kugel wohnen. Egal in welche Richtung ich jetzt weiter laufe, irgendwann muss die Wüste zu Ende sein. Wahrscheinlich ist es in eine Richtung kürzer als in die andere, aber alles ist besser als hier stehen zu bleiben und nichts zu tun, davon werde ich bestimmt nie heraus finden, wie es weitergehen muss.
Ich mache die Augen zu und drehe mich ein paar Mal um mich selber. Dann marschiere ich los. Ich merke mir, dass die Sonne rechts von mir ist. Wenn ich immer auf sie Acht gebe, kann ich nicht im Kreis laufen. Das ist nämlich das gefährlichste, was einem in so einer Wüste passieren kann, das weiß ich aus einem Abenteuer-Film, der mal im Fernsehen kam. Da hat der Forscher nachher einen großen Goldschatz gefunden und ist zwischendurch einigen ägyptischen Geistern begegnet. Das war nicht so witzig und ich hoffe, dass es hier keine Geister gibt oder die sich auch verlaufen haben und mich nicht finden.
Ich kletter auf eine der Dünen, die vor mir liegen, was gar nicht so einfach ist, weil der heiße Sand unter mir immer wieder nachgibt und hinunter rieselt und ich das Gefühl habe, für jeden Schritt, den ich nach oben kletter, rutsche ich zwei wieder hinunter. Endlich bin ich oben angekommen und kann tatsächlich ganz weit sehen. Und ich sehe – noch mehr Sand. Aber als ich die Augen ein wenig zusammenkneife, meine ich auf einer Seite einen feinen Rauchstreifen wie von einem Feuer zu sehen.
Ich stapfe immer weiter auf die Rauchsäule zu und fühle mich fast wie ein Forscher, nur dass ich keinen tollen beigen Hut habe. Ich rufe vorsichtshalber den Kameltreibern ein paar Befehle zu und bestimme, dass wir das Lager nicht eher aufschlagen, bevor wir die Quelle des Rauches erreicht haben. Und ich schwöre, für einen Moment sehe ich riesige Kamele neben mir herziehen, mit bunten Decken über ihren Höckern und einige dunkelhäutige Menschen in langen weißen Gewändern, die sie antreiben. Aber dann ist es auch schon wieder vorbei und ich bin alleine mit sehr viel Sand.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich gelaufen bin. Vielleicht waren es auch Tage oder Wochen.
Endlich sehe ich am Horizont ein kleines Haus auftauchen. Mitten in der Wüste, zwischen zwei Dünen steht es da und guckt genauso wie das Gartenhäuschen, das wir früher einmal hatten. Da ist Frank noch zur Arbeit gegangen und brauchte es, um nach der Arbeit mal so richtig auszuspannen. Jetzt ist das Häuschen überflüssig geworden, weil er seine Tage nicht mehr in vor der Arbeit und nach der Arbeit einteilen kann.
Gut, dass ich mich in einem Traum befinde. Im normalen Leben würde ich nicht zu einer Person gehen, die sich mitten in der Wüste ein Gartenhäuschen baut. Das kann ja nur jemand völlig Durchgeknalltes sein.
Traum hin oder her, mir klopft ganz schön das Herz, als ich endlich vor der abgeblätterten alten Holztür stehe. Ich hebe die Hand um anzuklopfen. Aber kurz bevor meine Faust das Holz berührt, geht die Tür von alleine auf. Ohne ein Geräusch, nicht mal ein unheimliches Knatschen wie sich das gehört bei solchen Türen. Dahinter sehe ich nur Dunkelheit. Mit einem Arm umklammere ich fest Eduard, um zu wissen, dass ich nicht alleine bin, und trete ein.
In der Hütte ist nichts außer einem einfachen Holzbett, einem Tisch und einem Stuhl. Auf diesem Stuhl sitzt Felix und starrt auf seine Hände, die er vor sich auf dem Tisch gefaltet hat. Ich will gerade umdrehen und schnell wieder weg laufen, da sagt er, ohne auch nur einmal aufzuschauen. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“ Das kann ja jeder von sich behaupten, denke ich, bleibe aber tatsächlich stehen und drücke Eduard noch ein bisschen fester an mich, woraufhin er mich in die Hand beißt.
„Setz dich“, sagt Felix, und plötzlich steht auf der anderen Seite des Tisches ein zweiter Stuhl, der vorher ganz bestimmt nicht da war. Da die einzige Alternative die Wüste vor der Tür ist, gehorche ich. Er sieht mich immer noch nicht an. Ich glaube sogar, er hat Tränen in den Augen. Er tut mir fast ein bisschen leid.
„Durst?“ fragt er, ich nicke und vor mir steht ein großes Glas kaltes Wasser. „Hunger?“ Schon steht ein saftiges Sandwich auf meiner Seite des Tisches. Während ich kaue, starre ich ihn die ganze Zeit an, aber er sieht nur seinen Händen beim ineinander falten zu.
„Ich hätte dich niemals hierher holen dürfen“, sagt er plötzlich, und wäre ich nicht so schrecklich hungrig, würde ich vor Überraschung bestimmt aufhören zu kauen.
„Aber ich bin doch selber hierher gekommen!“ werfe ich ihm entgegen, schließlich war es schwer genug, den Weg hierher wieder zu finden.
Er nickt nur.
Aber jetzt werde ich richtig sauer. „Bei den anderen Kindern musst du dich entschuldigen! Bei denen, die du, wie Emma, entführt hast, damit du Darsteller für deine Träume hast! Das ist doch Kinderarbeit! Sklavenhandel!“
Endlich hebt Felix den Blick. Seine Augen sind groß und traurig und sehen gar nicht aus wie die eines Sklavenhändlers.
„Ich bin nicht böse, Jack.“